Caritas Report 2022-23

DAS MAGAZIN DES CARITASVERBANDS DER ERZDIÖZESE MÜNCHEN UND FREISING 2022/2023 Caritas Report Krisen als Innovationstreiber

ausgaben und mobiler Beratung begegnen wir der wachsenden Armut im reichen München (S. 34 ff.). Ein enorm limitierender Faktor der Sozialverbände ist der Mangel an Arbeits- und Fachkräften in allen sozialen Berufen. Hier fordern wir im Jahr der bayerischen Landtagswahl die Politik dringend auf, schnell zu handeln (S. 26 f.). Wir brauchen Lösungen gegen Personal- und Wohnungsnot, eine Ausbildungsoffensive für pflegende und erziehende Berufe, mehr Schulplätze und eine dauerhafte und auskömmliche Finanzierung der Sozialen Arbeit. Ideen gegen den Personalmangel entwickeln wir auch selbst, etwa mit den neuen Kita-Assistenzkräften (S. 29 f.). Eine älter werdende Gesellschaft braucht neue Lösungen für absehbar immer mehr Pflegebedürftige. Deshalb schließen wir uns in Garmisch-Partenkirchen mit Marktgemeinde, der Leifheit Stiftung, der Technischen Universität München (TUM) und dem DLR (Deutsches Luft- und Raumfahrtzentrum Unterpfaffenhofen) zusammen, um die Zukunft der Pflege in Angriff zu nehmen. Mit faszinierenden neuen Technologien, die etwa im GeriatronicRoboter GARMI (s. Titelfoto) stecken und vielen anderen technischen Tools und Konzepten (S. 17 ff.). Innovativ sind auch unsere Projekte in Sachen Nachhaltigkeit (S. 7 ff.): Klimakoffer, Stromsparchecks und E-Autos geben die Richtung vor. Es gibt viel zu tun! Packen wir’s an. In diesem Sinne wünschen wir viel Lesefreude mit dem vorliegenden Caritas-Report. Ihr Vorstand des Diözesan-Caritasverbands lickt man auf das vergangene Jahr, tauchen unweigerlich Schlagworte auf, die uns persönlich, als Caritas, aber auch als Gesellschaft bewegten und forderten und in ihren Auswirkungen weiter präsent bleiben: Die Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine, hohe Inflation und Personalnöte, die fortschreitende Klimakrise und der demografische Wandel. Dass der Caritas-Verband, der stets hilft und unterstützt, durch einen kriminellen Cyberangriff selbst in eine existenzielle Krise gestürzt wird, hat den Verband und alle Mitarbeitende vor enorme Herausforderungen gestellt, die auch weit in das Jahr 2023 hinein spürbar sind. Dennoch können wir optimistisch in die Zukunft blicken. Denn dafür gibt es gute Gründe: Krisen schweißen zusammen. Das hat die Caritas-Gemeinschaft in ihrer 100-jährigen Geschichte oft bewiesen. Krisen bieten Chancen. Für Ideen und Innovationen – technischer, prozessualer und inhaltlicher Art. Genau solche Chancen nutzen wir als DiCV sowohl bei der Entwicklung unserer neuen IT-Landschaft als auch bei der Gestaltung von wichtigen Hilfs- und Unterstützungsangeboten. Der Cyberangriff traf uns ins Mark, das ist nicht zu verhehlen. Aber er forderte auch unser Durchhaltevermögen und unseren Willen, uns nicht kleinkriegen zu lassen. Von heute auf morgen war unsere zentrale IT-Infrastruktur lahmgelegt. Unseren Kernauftrag, den Dienst am Menschen, haben unsere Mitarbeitenden sowie viele ehrenamtlich Engagierte stets aufrechterhalten – mit großer Flexibilität und hoher Einsatzfreude. Und mit unserer Innovationskraft beschleunigen wir gerade den digitalen Transformationsprozess im Verband (S. 4 ff.). Mit einem Pop-up-Infopoint am Münchner Hauptbahnhof haben wir kurz nach dem Kriegsausbruch auf die Flüchtlinge aus der Ukraine reagiert. In einer großen Solidaritätsaktion gelang es, die Geflüchteten aufzufangen. Als deren Zahl zurückging, wurde der Infopoint wieder abgebaut. Wie wir die steigenden Flüchtlingszahlen, auch aus anderen Ländern, bewältigen wollen, lesen Sie ab S. 10. Hohe Inflationsraten entwerten unser Geld und lassen die Schuldenberge und die Verzweiflung vieler bedürftiger Menschen wachsen. Die steigenden Armutszahlen belegen dies sehr deutlich. Selbst wer eine Arbeitsstelle hat, ist vor Armut nicht geschützt. Mit Fashion-Truck, EssensB ↑ Thomas Schwarz, Prof. Dr. Hermann Sollfrank, Gabriele Stark-Angermeier (v. l.) Vorstand des Diözesan-Caritasverbands Inhalt Ideen und Aufbruchstimmung trotz vieler Krisen HERAUSGEBER Caritasverband der Erzdiözese München und Freising e. V. Hirtenstraße 4, 80335 München Tel.: +49 89 551 69-228 pressestelle@caritasmuenchen.org V.I.S.D.P. Aleksandra Solda-Zaccaro Abteilung Kommunikation & Sozialmarketing REDAKTIONSLEITUNG Bettina Bäumlisberger AUTORINNEN UND AUTOREN: Bettina Bäumlisberger (beb), Manuela Dillmeier (md), Dr.in Sandra Dlugosch, Willi Dräxler, Ute Engelmann (ute), Julia Furlan (juf), Alexander Huhn (ahu), Katherine Mackenzie (KM), Marion Müller-Ranetsberger (mmr), Valentina-Anna Rätz (var), Marieluise Ruf, Isabella Salvamoser (isa), Antje Spilsbury (asp), Maria Wildmann (mw) LEKTORAT Lektorat Süd FOTOS Caritas München-Freising: Bettina Bäumlisberger, Manuela Dillmeier, Robert Haas, Raphael Klei, Marion Müller-Ranetsberger, Valentina-Anna Rätz, Marcus Schlaf; AdobeStock; SkF München; Unsplash: Philipp Katzenberger, Nick de Partee, Jan Reinicke; Weißer Rabe TITELFOTO Astrid Eckert/TUM KONZEPT & GESTALTUNG Studio Botschaft, München DRUCK Kastner AG, Wolnzach PAPIER Munken Print White 1.5 V, 300 g/m², 100 g/m², umweltzertifiziertes Naturpapier: FSC®, PEFC, EU Ecolabel, ECF REDAKTIONSSCHLUSS Mai 2023 04 Plötzlich offline – die Caritas und der Cyberangriff 07 Nachhaltigkeit im Fokus 08 Inklusion und Klimaschutz – das passt zusammen! 10 Heimat ist, wo ich zu Hause bin 13 Wie privates Wohnen für Geflüchtete gelingt 14 Interview mit Caritas-Mitarbeiterin Darya Dmytruk 16 Gleiche Rechte für alle Geflüchteten 17 Pflege im Aufbruch 19 Innovative Techniken in der Pflegepraxis 20 Drei Generationen Frauenpower 24 Buntes Fest zum Jubiläum 26 Landtagswahl in Bayern: Wir fordern Offensiven gegen Personalmangel und Wohnungsnot 28 Ohne Kita steht die Wirtschaft still 29 Weiterbildung für Ukrainerinnen 31 Auch Väter kommen ins Mutter-Kind-Haus 32 Ein Jahr der Herausforderungen Caritas dankt für die große Hilfsbereitschaft in Krisenzeiten 33 Eine Vielfalt an Projekten durch die Aktion Mensch 34 Fashion-Truck, Essensausgaben und mobile Beratung 38 Unternehmen und Stiftungen Danke für die Unterstützung unserer Projekte 3 CARITAS-REPORT EDITORIAL

Plötzlich offline – die Caritas und der Cyberangriff Cyberangriffe auf Unternehmen und Organisationen häufen sich, auch Wohlfahrtsverbände werden nicht verschont. Den Caritasverband München-Freising traf es im September 2022, ein Hackerangriff legte die IT-Infrastruktur des größten oberbayerischen Sozialverbands lahm amstag, 10. September 2022, Caritasverband München-Freising: Alle 3.000 Desktop-Computer, 2.000 Laptops und 1.000 Drucker bleiben ausgeschaltet. Es gibt keine E-Mails, keine Internetverbindung, keine Daten von Laufwerken, keinen Zugang zu IT-Systemen und den 500 Servern im Rechenzentrum für die 10.000 Beschäftigten. Hochprofessionelle Cyberkriminelle haben Oberbayerns größten Sozialverband attackiert und die zentrale IT-Infrastruktur lahmgelegt. Sofort etablierte der Vorstand einen mehrmals täglich tagenden Krisenstab, an dem neben der IT- die Kommunikationsabteilung beteiligt war. Externe Fachleute wurden hinzugezogen. Die Angreifer hatten sich bereits im August 2022 über eine E-Mail mit einem Virus Zugang zu unseren Servern und unserem Netzwerk verschafft. So konnten die Kriminellen unsere Systeme ausspähen und weitere Schadsoftware installieren. Am 10. September dann verschlüsselten die Hacker Daten und hinterließen auf einem Caritas-Server eine Nachricht mit einer hohen Lösegeldforderung. Sofort wurde die IT-Infrastruktur abgeschottet, damit nichts und niemand mehr hineinkam. Aber es kamen natürlich auch keine Daten mehr heraus. Alles, was über das Caritas-Netzwerk, mit Caritas-Software, auf digitalen Endgeräten und zentral über Server erarbeitet, erledigt und abgespeichert worden war, war nicht mehr zugänglich. Digital vernetztes Arbeiten hatte schlagartig ein Ende – zum Glück nur vorübergehend. Das Allerwichtigste: die Kernaufgabe der Caritas, die Arbeit für die Menschen in den Altenheimen, in den Kitas und Werkstätten sowie in der Sozialberatung, aufrechtzuerhalten. Schwierig genug – ohne Computer, ohne Datenleitungen, anfangs teilweise ohne Telefon und Drucker. Mit großer Flexibilität und hohem persönlichem Engagement hielten die Mitarbeitenden den Kontakt zu ihren Klienten/ -innen, zu Angehörigen und zu ehrenamtlich Engagierten. Zudem mussten die elementaren Prozesse und Abläufe im Verband wiederhergestellt werden. Die Zahlungsfähigkeit des Verbands musste genauso gewährleistet bleiben wie S „Absolute Priorität hat die Aufrechterhaltung des Betriebs, damit wir für unsere Klienten/-innen, Bewohner/-innen und zahlreichen Hilfesuchenden da sein können.“ CARITASDIREKTOR PROF. DR. HERMANN SOLLFRANK TEXT Bettina Bäumlisberger/Maria Wildmann FOTOS Philipp Katzenberger/Unsplash 5 KRISE ALS CHANCE – DIGITALE TRANSFORMATION NACH CYBERANGRIFF CARITAS-REPORT 4

eine funktionierende Gehaltsabrechnung. Grundlegend waren darüberhinaus Kommunikationsmöglichkeiten nach innen und außen, denn es war sofort klar, dass der Angriff auf die IT-Systeme auch das Ziel hatte, das Vertrauen unserer Mitarbeitenden, Kundinnen und Kunden, Geschäftspartner und -partnerinnen sowie aller, die den DiözesanCaritasverband unterstützen, zu erschüttern. Schnelle und offene Kommunikation erfolgte zunächst über private E-Mail-Konten, SMS-Ketten und telefonisch. Webseite und Social-Media-Konten lagen auf externen Servern, waren somit „sauber“ und konnten weiter genutzt werden, um mit Kunden/-innen, Angehörigen uns anvertrauter Personen, Bewerbern/-innen, Spendern/-innen sowie Behörden zumindest informierend zu kommunizieren. Ebenfalls online stellten wir einen Katalog der häufigsten Fragen und Antworten, den wir fortlaufend aktuell hielten. Presse und Stakeholder wurden ebenso rasch informiert, wie Mitarbeitende binnen Tagen Schreiben mit konkreten Handlungsanweisungen erhielten. Eines war schnell klar: Der Verband wollte sich nicht erpressen lassen, das Lösegeld wurde nicht gezahlt. Weil Kommunikation so zentral ist, gehörte das Wiederherstellen von 5.500 Benutzerkonten und E-MailAdressen zu den Prioritäten. Das gelang binnen drei bis vier Monaten nach dem Cyberangriff. Weitere IT-Strukturen stellten unsere Partner nach und nach wieder zur Verfügung: 4.000 Laptops und PCs wurden neu aufgesetzt, 700 neue Smartphones installiert, ein ganzes Rechenzentrum umgezogen – und wir nutzen Clouds (s. Kasten rechts unten). 4,3 Terabyte Daten wurden inzwischen „gewaschen“. Das neue Caritas-Netzwerk wird ab Mitte Juli an allen Standorten ausgerollt. Die Caritas ist seit jeher auch in der Krise stark. Mit Solidarität und Mut, mit Tatkraft und einer immensen Kraftanstrengung aller Mitarbeitenden und externer Partner gelang es in wenigen Monaten, die Lage in den Griff zu bekommen und die Krise als Chance zu nutzen. So hat die Cyber- attacke den ohnehin geplanten digitalen Transformationsprozess des Verbands erheblich beschleunigt. Von Anfang an war das Ziel, nicht nur einfach wieder die alte IT-Welt herzustellen, sondern eine neue, moderne und zukunftsfähige, stabile und sicherere IT-Infrastruktur aufzubauen. Priorität hat außerdem, die künftige IT-Umgebung vor weiteren Cyberangriffen zu schützen. Natürlich war auch bisher der Standard der Caritas-IT-Sicherheit hoch - aber die Fähigkeiten der Angreifer sind ebenfalls groß. Daher ist es neben den technischen Systemen, die Angriffe erkennen und deren Ausbreitung verhindern sollen, wichtig, dass die Mitarbeitenden regelmäßig geschult werden. Sie müssen wissen, wie sie zum Beispiel mit verdächtigen E-Mails oder Dateien umgehen sollen. Sensibilisierung und Aufmerksamkeit sind im Kampf gegen Cyber- kriminalität entscheidend, denn die beste Firewall sind die Mitarbeitenden. rund 500 Server im Rechenzentrum knapp 5.000 persönliche E-Mail-Adressen über 3.000 stationäre Computer 2.000 Laptops fast 2.400 Smartphones 1.000 Drucker ca. 230 Sondergeräte wie z. B. Smartboards sowie unzählige Programme und Softwareanwendungen und sehr große Datenmengen Zerstörte IT DER CYBERANGRIFF IM SEPTEMBER BEEINTRÄCHTIGTE ERHEBLICH Nachhaltige Projekte Stromspar-Check – den Stromfressern auf der Spur Seit 2016 – schon lange bevor die Energiekrise ins Rollen kam – bietet der Caritasverband in München die kostenlose Energiesparberatung „Stromspar-Check“ für Haushalte mit geringem Einkommen an. Ziel ist es, den Verbrauch von Strom, Heizung und Wasser zu senken und die Energiekosten zu reduzieren. Ergänzt wird das Angebot seit dem Frühjahr 2023 durch die Maßnahme „Weiße Ware“: Dabei können zwei alte Haushaltsgeräte wie z. B. Waschmaschine oder Kühlschrank gegen energieeffiziente Modelle ausgetauscht werden. Caritas fährt elektrisch 2022 hat der Caritasverband zehn Prozent seiner Fahrzeugflotte durch E-Autos ersetzt – das entspricht 73 Pkw. Hauptsächlich sind die Autos in der ambulanten Pflege im Einsatz, aber auch Mitarbeitende beispielsweise im Sozialpsychiatrischen Dienst nutzen die neuen Fahrzeuge. Unterstützt wird die Umstellung durch das Förderprogramm „Sozial & Mobil“ des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz. Auf dem Weg, den Fuhrpark des Caritasverbands CO 2 -neutral zu gestalten, wurden zusätzlich weitere 20 Prozent der Flotte mit sehr effizienten Verbrennerfahrzeugen erneuert. Mit beiden Maßnahmen konnte der Caritasverband im Vergleich zum Vorjahr etwa 17 Prozent der CO 2 - Fuhrparkemissionen einsparen! Klimaschutz, der allen nutzt – die Jahreskampagne des Deutschen Caritasverbands Auch in Deutschland sind die Folgen der Klimakrise längst augenfällig – und es sind die Menschen besonders betroffen, die weniger ökonomische Mittel haben, um sich gegen die Folgen zu schützen. Es sind die Alten, die Kinder, die Kranken, die leiden. Die Caritas will mit ihrer Jahreskampagne sichtbar machen, wie das geht: Klimaschutz, der allen nutzt. Die reichsten Menschen verursachen die meisten Klimaschäden. Wenn diejenigen, die viel Geld haben, auch viel in Klimaschutz investieren, dann ist das Klimaschutz, der allen nutzt. Dafür braucht es Regeln, auf die wir uns verständigen müssen – national und international. Philipp Neri Schule – Fairtrade School Als zertifizierte Fairtrade School setzt sich die Philipp Neri Schule in Rosenheim, ein Förderzentrum mit dem Schwerpunkt geistige Entwicklung, dafür ein, dass der faire Handel an der Schule gefördert wird und das Bewusstsein für gerechten Handel in der ganzen Welt wächst. So werden im „Happy Fair Café“ der Schule fair gehandelte Produkte angeboten. Durch Gestaltungsarbeiten wie ein Mobile aus fairen Verpackungen für die Schulaula wird das Thema immer wieder sichtbar gemacht. Und natürlich fehlte beim alljährlichen Sommerfest nicht der Fairtrade-Stand mit einer Spielstation zu fairen Logos, Infotafeln und mit fairen Bleistiften zum Verschenken. ÖkoKids – aktiv in den Kitas Regelmäßig werden Kindertageseinrichtungen des Caritasverbands für ihren achtsamen und nachhaltigen Umgang mit der Natur vom Landesbund für Vogelschutz (LBV) als „ÖkoKids“ ausgezeichnet. So auch die Heilpädagogische Tagesstätte des Kinderdorfs Irschenberg, die sich 2022 mit Palmöl- und Plastikfreiheit auseinandergesetzt hat. Die Kinder fertigten selbst Seifen an aus 100 Prozent natürlichen Rohstoffen, u. a. aus Aktivkohle und selbst gesammelten und getrockneten Kräutern. Diese Seifen wurden auf dem Kirchweihfest verkauft und der Erlös gespendet. „Unseren Kindern hat es viel Freude gemacht, etwas in Händen zu halten, das so sinnvoll ist und so natürlich hergestellt“, erinnert sich Bereichsleiterin Veronika Wörndl. „Und es hat die Kinder sehr fasziniert, dass aus ‚Schwarz‘, der Aktivkohle, saubere Hände werden!“ Zum 6. Mal dabei ist das Caritas Integrationskinderhaus Regenbogen in München. Dort hieß es 2022: „Wir bauen ein Haus!“, und zwar mit eigenen Händen und weitesgehend natürlichen und recycelten Baustoffen. Der Gedanke dahinter: die Fähigkeit aller Beteiligten zu stärken, vorhandene Alternativen zu häufig eingefahrenen Konsummustern in Betracht zu ziehen. So kam Holz zum Einsatz, das beim Abriss eines Gartenhauses gerettet worden war, und die Arbeit ging nach traditioneller Zimmermannsart (s. Bild unten) vonstatten: mit Falz und Zapfen, Hammer und Säge, fast ohne Strom. „Das dauert schon lange“, erzählt Umweltpädagogin Julia Fritzemeyer mit einem Lächeln. „Aber die Langsamkeit ist wichtig, denn es geht auch darum, die gemeinsame Zeit und den Prozess des Bauens zu genießen, die Kinder zu beteiligen und in Entscheidungen einzubeziehen.“ (mw) Wärmedämmung auch für günstige Mietwohnungen! ↓ Gut 70 E-Autos setzt der Caritasverband vor allem in der ambulanten Pflege ein. KLIMA-, UMWELTSCHUTZ UND FAIRER HANDEL ↑ Mehr Projekte finden Sie über diesen QR-Code. 4.000 Laptops & Computer neu aufgesetzt Firmennetzwerkverbindung Drucker 5.500 Benutzerkonten & Zugriffe Identitäts- und Berechtigungsverwaltung 700 neue Smartphones Internetverbindung Support Umzug des Rechenzentrums Clouds & Daten Schnittstellen, Anwendungen Was schon geschafft ist SICHTBARE IT UNSICHTBARE IT 7 6 CARITAS-REPORT

teile kommen aus der Zweigwerkstatt CEPRO (Centrum für psychische Probleme). Selbst eine Solarzelle ist Bestandteil des Koffers, die in der Elektromontage mit dem Motor verbunden wird. Dazu kommen die Verpackungsarbeiten sowie Lager- und Logistikaufgaben. „Alle Bereiche unserer Werkstatt sind in den Klimakoffer involviert“, erklärt der Werkstattleiter. „Außerdem fördert der Klimakoffer besondere Kooperationen, etwa mit Schulen und Stiftungen oder der LMU, und trägt so dazu bei, dass Menschen mit Behinderungen sichtbar und als wertvolle und wertstiftende Mitglieder der Gesellschaft gesehen werden.“ Finanziell partizipieren die Menschen mit Behinderungen ebenfalls. So konnte die Caritas-Werkstatt Dachau durch die Einnahmen aus dem Verkauf des Klimakoffers 2022 drei Sonderzahlungen an die Beschäftigten ausschütten. Besonders erfreulich: Für das Jahr 2023 sind die Auftragsbücher schon wieder gut gefüllt! Handyrecycling mit dem Weißen Raben – wertvolle Rohstoffe und wichtige Arbeitsplätze Klimaschutz und Inklusion stehen auch im Mittelpunkt des Projekts „Green & Social“ des Weißen Raben, eines Inklusions- und Beschäftigungsbetriebs des Caritasverbands. Nicht mehr wegzudenken aus dem Alltag, aber für Mensch und Umwelt hochproblematisch, sind Handys: Die Produktion der Geräte mit wertvollen Rohsto en wie Coltan, Platin, Gold, Silber oder Kupfer hat teilweise verheerende Auswirkungen auf die Ökosysteme der Abbauländer. Beim Abbau der Rohsto e und bei der Herstellung der Geräte fehlen außerdem häu g arbeitsrechtliche Standards. Obwohl Verbraucher ihr Handy immer länger nutzen – aktuell sind es in Europa im Schnitt 40 Monate –, scheint die Nachfrage nach den Geräten kaum zu versiegen. Ein weiteres Problem: Viel zu selten werden alte Smartphones fachgerecht entsorgt und verantwortungsbewusst recycelt. Unglaubliche 206 Millionen ungenutzte Handys bewahren die Bundesbürger in Deutschland momentan zu Hause auf, schätzte der Digitalverband Bitkom 2021. Hier setzt der Recyclingbetrieb des Weißen Raben mit seiner Aktion „Green & Social“ an. Dabei organisiert er für Unternehmen interne Handysammelaktionen für die Mitarbeitenden. Anschließend wird im Recyclingbetrieb zuerst geprüft, ob das einzelne Handy direkt in die Wertstoffverwertung kommt oder aufbereitet werden kann. Die noch verwendbaren Geräte werden professionell mit den eventuell notwendigen Reparaturen und Updates versehen, bevor sie im Onlineshop des Weißen Raben weiterverkauft werden. Die anderen Handys werden fach- und datenschutzgerecht auseinandergebaut. „Das Besondere und Einzigartige am Recyclingbetrieb des Weißen Raben ist, dass die Zerlege- und Sortierprozesse ausschließlich händisch durchgeführt werden“, erklärt Betriebsleiterin Heidi Sprenger. „Dadurch wird eine besonders hohe Sortiertiefe erreicht. Das bedeutet, dass erheblich mehr Wertsto e gewonnen werden können als bei maschineller Zerlegung.“ Dafür hat der Weiße Rabe extra eine 20 Meter lange „Zerlegestraße“ über zwei Ebenen entwickelt, an der die Mitarbeitenden die Geräte auseinanderbauen und sortieren. Die sortenreinen Wertsto e werden anschließend verkauft. „Wir legen höchsten Wert darauf, dass es sich dabei ausschließlich um zerti zierte Abnehmer handelt“, bekräftigt Heidi Sprenger. „Dies gewährleistet, dass die Wertsto e wieder in den Ressourcenkreislauf zurück ießen. Die Erlöse aus dem Verkauf können wir wiederum in unseren Betrieb und unsere Mitarbeitenden investieren.“ Rund 850 ausgemusterte Geräte konnten so schon wiederverwertet werden – und damit gleichzeitig sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze für Menschen gesichert werden, die auf dem ersten Arbeitsmarkt noch keine Chance haben. MARIA WILDMANN „Das Besondere und Einzigartige am Recyclingbetrieb des Weißen Raben ist, dass die Zerlege- und Sortierprozesse ausschließlich händisch durchgeführt werden.“ HEIDI SPRENGER ↑ Recyclingstation: In akribischer Handarbeit zerlegen die Mitarbeitenden des Weißen Raben die Handys in die einzelnen Bestandteile, um wertvolle Rohstoffe zu erhalten. Inklusion und Klimaschutz – das passt zusammen! er Klimawandel kommt nicht – wir stecken längst mittendrin. Und doch wird häufig argumentiert, dass wir uns bei all den sonstigen Krisen, wie Energiekrise, Inflation, steigende Armutsgefährdung, Klimaschutz nicht wirklich leisten können. Doch gerade Klimaschutz und soziale Anliegen können, ja müssen Hand in Hand gehen. Zwei wunderbare Projekte im Caritasverband zeigen, wie Inklusion und Klimaschutz zusammen funktionieren. Der Klimakoffer – made in der Caritas-Werkstatt für Menschen mit Behinderungen in Dachau Eigentlich weiß es (fast) jede und jeder: Die Erde erwärmt sich, extreme Wetterphänomene häufen sich, Wasser wird knapp – sogar bei uns in Deutschland. Dennoch bleibt der Klimawandel oft etwas Abstraktes, dem man in seiner ganzen Wucht scheinbar hilflos ausgeliefert ist. Hier setzt der von der Astrophysikerin Dr. Cecilia Scorza an der Ludwig-­ Maximilians-Universität (LMU) entwickelte Klimakoffer für weiterführende Schulen an. Denn nur wer den Klimawandel und seine lokalen und globalen Auswirkungen versteht, kann nachhaltig und verantwortlich handeln. In zwölf Experimenten können Schüler/-innen naturwissenschaftliche Zusammenhänge untersuchen und lernen, wie sich schon im Kleinen Veränderungen bewirken lassen. Bildung ist nur die eine Seite des Projekts. Der Klimakoffer wird nämlich exklusiv in der Caritas-Werkstatt für Menschen mit Behinderung in Dachau produziert und vertrieben. „Wir sind wahnsinnig stolz und glücklich, von Beginn an beim Klimakoffer dabei sein zu können“, schwärmt Werkstattleiter Robert Pippig. „Es ist ein tolles Projekt auch der Teilhabe, denn Menschen mit Behinderungen werden nicht nur auf vielfältige Weise gefördert, sondern geben der Gesellschaft ganz konkret etwas zurück.“ Aus über 80 Teilen besteht ein Klimakoffer. Insbesondere die Holzbauteile entwickelte die Caritas-Werkstatt seit 2020 mit. Heute werden alle Artikel des Klimakoffers von den Mitarbeitenden und den Beschäftigten der Werkstatt beschafft, produziert und konfektioniert. „Dadurch sind viele neue Tätigkeiten und Einsatzgebiete für Menschen mit Behinderungen entstanden“, berichtet Pippig. Holzteile wie Versuchsrahmen oder Lampenhalterungen werden in der eigenen Schreinerei hergestellt, Laser­ „Menschen mit Behinderungen werden nicht nur auf vielfältige Weise gefördert, sondern geben der Gesellschaft ganz konkret etwas zurück.“ ROBERT PIPPIG D ↓ Patrick Frank bestückt den Klimakoffer, der in Bayerns Schulen zum Einsatz kommt. 9 8 CARITAS-REPORT INKLUSION

Heimat ist, wo ich zu Hause bin Der unerwartete Krieg in Europa hat eine Welle an Solidarität und Hilfsbereitschaft ausgelöst TEXT Manuela Dillmeier FOTOS Bäumlisberger, Dillmeier/ Caritas München-Freising; Jan Reinicke/Unsplash ir erleben derzeit die größte Fluchtbewegung in Europa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs: 1,1 Millionen Ukrainer/ -innen sind mit ihren Kindern aus ihrer Heimat geflohen. 100.000 haben in Bayern ein neues Zuhause auf Zeit gefunden, 15.000 in München. Der unerwartete Krieg in Europa hat eine Welle an Solidarität und Hilfsbereitschaft ausgelöst. Und einmal mehr zeigt sich, wie viel Bürokratie überwunden werden muss, um zu helfen. Aber auch, wie viel Kreativität und Innovationsfähigkeit engagierte Menschen und Institutionen entwickeln, wenn es darum geht, Menschen in Not beizustehen. Einige Beispiele stellen wir auf den folgenden Seiten vor. Caritas-Infopoint am Münchner Hauptbahnhof Mit einem Pop-up-Stand in der Schalterhalle des Münchner Hauptbahnhofs startete die Caritas München am 1. März 2022, nur wenige Tage nach Kriegsausbruch, ihre Hilfe für ukrainische Geflüchtete. Die Initiatorinnen des CaritasInfopoints, Johanna Schlehuber, Caro Hartl und Claire Ruminy vom Freiwilligen-Netzwerk Willkommen in München (WiM), haben einen guten Job gemacht, denn ihre Idee, Soforthilfe für die ankommenden Geflüchteten aus der Ukraine zu leisten, wurde mehr als 13 Monate lang von vielen hauptberuflich und ehrenamtlich W DANKE! Unzählige Menschen haben die Hilfe unserer Caritas für die Flüchtlinge aus der Ukraine mit Geld- und Sachspenden und durch tatkräftiges ehrenamtliches Engagement begleitet. Ihnen allen gebührt unser herzlicher Dank. Für besonders großzügige Unterstützung der Ersthilfe am Infopoint in München bedanken wir uns vor allem bei: Landeshauptstadt München mit Mitteln aus dem Spendenkonto „Solidarität Ukraine“ und Stiftungsmitteln Micron Technology Foundation Philip Morris GmbH Stiftung ANTENNE BAYERN hilft Stiftung RTL – Wir helfen Kindern e. V. ↑ Maksym I. Sonderpädagoge aus Kiew „Wir danken euch. Wir hatten alles verloren. Ihr habt uns die Hoffnung zurückgegeben.“ ↑ Marina F. Sozialarbeiterin aus Donezk „Ich freue mich sehr, dass ich in der Korbinian-Küche der Caritas eine neue Aufgabe gefunden habe.“ 11 10 CARITAS-REPORT MIGRATION & INTEGRATION

Tätigen weitergetragen und umgesetzt. 200.000 Menschen aus der Ukraine haben seither davon profitiert. Gemeinsam mit der Landeshauptstadt München, der Deutschen Bahn, der Bahnhofsmission an Gleis 11 und zahlreichen Freiwilligen des WiM-Netzwerks bot der Caritas-Infopoint eine muttersprachliche Erstorientierung für neu Ankommende. „Dank des außerordentlichen Einsatzes der zahlreichen Haupt- und Ehrenamtlichen konnten wir den Infopoint mehr als ein Jahr lang 24 Stunden täglich an sieben Tagen die Woche geöffnet halten“, lobt Caritas-­ Geschäftsleiter Harald Bachmeier. Dass der Einsatzplan funktioniert hat, ist auch Freiwilligen wie Andrej L. zu verdanken, der über Gruppen in sozialen Medien Verfügbarkeiten der ukrainischen Freiwilligen in München abgefragt und in Excel-Tabellen eingetragen hat. So waren immer Übersetzer/-innen und Helfer/-innen am Caritas-Infopoint präsent. Ukrainer/-innen engagieren sich für ihre Landsleute In den letzten Öffnungstagen des CaritasInfopoints treffen wir Katherina S. am Starnberger Flügelbahnhof. Sie trägt eine rote CaritasWeste und erklärt einer ukrainischen Frau die nächsten Schritte. Als sie im März 2022 von Sumy im Nordosten der Ukraine nach München geflohen ist, war auch ihre erste Anlaufstelle der Caritas-Infopoint, wo sie sich sofort ehrenamtlich für ihre neu ankommenden Landsleute eingesetzt hat. Die 41-Jährige ist eine von 17 Ukrainer/-innen, die die Caritas für die Erstanlaufstelle für ukrainische Geflüchtete am Münchner Hauptbahnhof befristet eingestellt hat. Die Situation in der Ukraine sei „stabil unklar“, berichtet sie von einem kürzlichen Besuch in ihrer Heimat. Keiner wisse, was morgen geschehe. „Die Leute wollen am liebsten dort bleiben“, erklärt sie. Mit ihrem Verdienst kann sie sich ein Zimmer in einer WG im Zentrum von München leisten. In ihrer Anfangszeit fand sie Unterkunft bei einer deutschen Familie. Mit Level B2 in Deutsch kommt sie gut zurecht. In der Ukraine hat sie Theologie studiert und in einer christlichen Mission mit obdachlosen Menschen gearbeitet. So ist es für sie naheliegend, in Deutschland Sozialarbeit zu studieren. „Alles ist möglich“, sagt sie optimistisch. ↑ Eine Dolmetscherin erklärt neu angekommenen Geflüchteten aus der Ukraine die nächsten Schritte. Die Heldinnen und Helden vom Infopoint ↓ Beim Schichtwechsel am Infopoint bringt die Teamleiterin ihr Einsatzteam auf den neuesten Stand. „Dank des außerordentlichen Einsatzes der zahlreichen Haupt- und Ehrenamtlichen konnten wir den Infopoint mehr als ein Jahr lang 24 Stunden täglich an sieben Tagen die Woche geöffnet halten.“ CARITAS-GESCHÄFTSLEITER HARALD BACHMEIER ↑ Roman B. Selbstständiger Dolmetscher aus Kiew „Die Arbeit am Infopoint hat mich menschlich auf jeden Fall weitergebracht.“ ↑ Artem N. 19 Jahre, aus Kiew „Ich bin mit einer Familie von 30 Personen mit der U-Bahn ins Aufnahmezentrum in die Messestadt gefahren.“ ↑ Ani N. Agrarwissenschaftlerin aus Moskau Sie war anfangs am Hauptbahnhof und im Ankunftszentrum in der Messestadt, später in der Dachauer Straße 122 und im Jobcenter im Einsatz. „Mein Leben kann ich mir ohne diese Leute nicht mehr vorstellen.“ in großes Herz, ein altes Haus und handwerkliches Geschick: Wenn Menschen Eigeninitiative zeigen, können Geflüchtete in privaten Haushalten leben. Wie das geht, beschreibt Willi Dräxler, Migrationsreferent des Diözesan-Caritasverbands und zugleich ehrenamtlicher Integrationsreferent der Stadt Fürstenfeldbruck. Willi Dräxler ist seit 37 Jahren mit einer Ecuadorianerin mit deutschem Pass verheiratet. Die beiden haben drei erwachsene Kinder und leben im Landkreis Fürstenfeldbruck. Den Caritas-Auftrag Nah. Am Nächsten leben sie nicht nur in ihrem Beruf. Jüngstes Engagement: eine Wohnung für ukrainische Geflüchtete. Auf die Frage, ob das klappe, kommt die einfache Antwort: Ja! Hier schreibt der 63-Jährige über seine Erfahrungen: Wir haben schon immer Geflüchteten günstigen Wohnraum gegeben. Aus Afghanistan, aus dem Kosovo, aus Äthiopien, aus Vietnam – und jetzt aus der Ukraine. Ukrainische Familie wohnt im Erdgeschoss – und zieht weiter Wir besitzen ein 100 Jahre altes Haus, in dem bis vor vier Jahren unsere ältere Tochter gewohnt hat. Als sie beruflich nach Berlin umzog, haben wir die Erdgeschosswohnung in Eigenarbeit generalsaniert. Anfang des Jahres 2022 war die Wohnung bezugsfertig – und unsere Tochter entschlossen, weiter in Berlin zu bleiben. Für uns lag es im Frühjahr 2022 sehr nahe, die Wohnung einer Familie aus der Ukraine anzubieten. Mit Geflüchteten hatte ich berufsbedingt schnell Kontakt. So lernten wir die ehrenamtlich engagierte Olga und ihre Familie kennen: ihren Ehemann, er stammt aus China, den sechsjährigen Sohn und Irina, Olgas Mutter. Es war für uns eine logische Entscheidung, der Familie die Erdgeschoss-Wohnung unserer Tochter zur Verfügung zu stellen. Ehrenamtliche helfen – das Jobcenter zahlt zunächst die Miete Mehrere Ehrenamtliche statteten die Wohnung mit Möbeln aus. Die Küche habe ich gebraucht gekauft und in vielen Stunden Arbeit umgebaut und ergänzt, um sie passend für die Wohnung zu machen. Olgas Familie zog also im April 2022 ein. Bis sie selbst Einkommen hatte, übernahm das Jobcenter die Miete. Wir waren sehr traurig, als Olga mit Mann und Kind im August nach Kanada weiterwanderte, denn wir waren Freunde geworden. Die Familie hatte ein Visum für Kanada bekommen, da Olgas Schwiegervater in den USA lebt. Mit ihren sehr guten Englischkenntnissen haben sie dort perfekte Perspektiven. Dann zieht Familie Korovkin ein – auch hier klappt es gut Sofort nach dem Auszug von Olga zog Familie Korovkin bei uns ein. Olga hatte sie empfohlen. Das klappt genauso gut. Die Korovkins haben zwei Kinder, die sich bereits sehr gut in der Schule zurechtfinden. Herr Korovkin arbeitet inzwischen als Englischlehrer an der örtlichen Realschule. Worauf es ankommt Es ist empfehlenswert, sich vorher kennenzulernen, um zu sehen, ob die Chemie stimmt. Die Wohnung sollte auf jeden Fall einen abgeschlossenen Bereich mit Küche und Bad haben. Die Vermieter sollten offen sein und den Geflüchteten bei Fragen mit Rat und gegebenenfalls auch mit Tat zur Seite stehen. WILLI DRÄXLER E → Olga L. aus der Ukraine wohnte mit Mann und Sohn ein halbes Jahr in einer Privatwohnung (links Willi Dräxler). ↑ Wolodymyr F. Lebt seit 33 Jahren in München „Es ist eine tolle Herausforderung, Menschen in Not zu helfen. Ich bin dankbar, dass ich diese Möglichkeit bekommen habe.“ ↑ Katherina H. 17 Jahre, Münchnerin mit russischen Wurzeln „Es hat mich stark beschäftigt, als Russin fühlt man sich schon ein bisschen verantwortlich.“ Wie privates Wohnen für Geflüchtete gelingt Ein Beispiel aus Fürstenfeldbruck 13 12 CARITAS-REPORT MIGRATION & INTEGRATION

ie Caritas-Sozialarbeiterin Darya Dmytruk spricht über ihre Erlebnisse seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vor einem Jahr und Projektpläne im Rahmen der Städtepartnerschaft München–Kyiv. Darya Dmytruk kommt aus der Ostukraine und lebt seit 2006 in München. Seit 2018 arbeitet die 40-Jährige bei der Caritas im Münchner Norden. Das Interview wurde kurz nach dem ersten Jahrestag des russischen Überfalls auf die Ukraine geführt. Wenige Tage zuvor ist Darya von einem Besuch aus Kyiv zurückgekehrt, bei dem sie die Möglichkeiten einer Zusammenarbeit der Partnerstädte München und Kyiv eruiert hat. C Wie hat dich vor einem Jahr die Nachricht vom Krieg in der Ukraine erreicht? DD Wir haben etwas erwartet. Ich glaube, die Nachricht kam am Freitagfrüh um sechs über das Handy. C Was war dein erster Impuls? DD Bei der russischen Annexion der Krim und dem Kriegsbeginn im Donbass 2014 war ich wie gelähmt und habe zwei Jahre nicht begriffen, was passiert ist. Dieses Mal bin ich sofort aktiv geworden und habe begonnen, Hilfslieferungen zu organisieren. An die Anfangszeit kann ich mich nicht mehr so genau erinnern. Ich war gefühlt die ganze Zeit im PaterRupert-Mayer-Haus und am Caritas-Infopoint am Hauptbahnhof, um zu helfen. Dazu kam die Ungewissheit über das Schicksal meiner Mama und meiner Oma. Ihre Heimatstadt Wolnowacha wurde komplett zerstört, die Russen hatten den Ort besetzt. Erst einen Monat später erfuhr ich, dass sie im Keller überlebt hatten und evakuiert worden waren. Meine Mama konnte ich im Mai 2022 in Italien abholen. Meine Oma und weitere Verwandte sind in der Ukraine geblieben. C Woran erinnerst du dich noch? DD Ich war nachts im D3 (CaritasBegegnungszentrum für Wohnungslose in der Dachauer Straße 3), wo in den ersten Tagen ukrainische Geflüchtete schlafen konnten. Mein Adrenalinspiegel war so hoch, dass ich keine Müdigkeit gespürt habe. Die D3-Kollegen/-innen haben für mich gesorgt und darauf geachtet, dass ich auch etwas esse. Das schweißt zusammen. C Du warst die ukrainische Stimme am Münchner Hauptbahnhof. Jeden Morgen um Viertel vor Acht kamen aktuelle Infos für Ukrainer/-innen in Radio Arabella. Wie war das für dich, deine eigene Stimme bei den Durchsagen am Bahnhof und im Radio zu hören? DD Ich wollte, dass die Durchsage am Bahnhof klar und beruhigend wirkt: „Willkommen in München. Sie sind jetzt sicher! Gehen Sie zum Infopoint der Caritas. Dort bekommen Sie Hilfe.“ Viele Ukrainer/-innen haben mich gehört und darauf angesprochen. Die Anfrage von Radio Arabella fand ich zuerst komisch und dachte: „Wer hört schon Radio?“ Doch dann habe ich Rückmeldungen bekommen, dass Ukrainer/-innen die Sendung sehr wohl gehört haben und die Informationen hilfreich sind. Eine Frau hat mich darauf angesprochen: „Wissen Sie, ich höre jeden Tag Ihre Sendung!“ Es war vieles unklar, die Infos haben sich ständig geändert. Wir mussten den Text immer wieder neu aufnehmen. C Du bist eben von einem kurzen Aufenthalt aus Kiew zurückgekehrt. Welche Eindrücke bringst du mit? DD Kyiv ist eigentlich eine bunte und lebendige Stadt. Das habe ich jetzt völlig anders erlebt. Man kommt nur über Checkpoints von der Vorstadt ins Zentrum. Das ist umständlich, aber notwendig. Anfang März hat noch nichts geblüht, es war alles grau. Die Stadt ist müde. Die Erde weint. Viele kleine Läden und kulturelle Einrichtungen haben geschlossen, weil die Inhaber/-innen und ihre Mitarbeitenden entweder bei der Armee oder ehrenamtlich aktiv sind. An den Eingangstüren erzählen handgemalte Schilder kleine Geschichten, oft mit dem Hinweis: „Wir kommen bald wieder.“ Ich war zum ersten Mal für die Caritas in Kyiv und bin immer wieder zusammengezuckt, weil mir viele Menschen mit körperlichen Verletzungen begegnet sind, ohne Beine oder nur mit einem Bein. Darunter sind junge Menschen, auch Kinder. Das hat mich sehr berührt und mitgenommen. Doch ich bin mit der Botschaft hingefahren: Wir kämpfen auch für euch. Wir schaffen das! C Was sind deine nächsten Pläne? DD Die Caritas München möchte im Rahmen der Städtepartnerschaft eine langfristige Zusammenarbeit mit der Caritas in Kyiv aufbauen. Ich habe mich mit der Direktorin der Caritas Ukraine, dem Direktor der Caritas in Kyiv und örtlichen Projektleitern/-innen getroffen, um zu erfahren, was nötig ist. Die Menschen brauchen etwas, das sie vom Krieg ablenkt. Sie brauchen einen sicheren Raum und Erlebnisse für die Sinne. Die Hilfsorganisation Renovabis finanziert noch bis Juni 2023 ein Therapieprojekt für Kinder und ihre Eltern mit Musik- und Bastelkursen. Während die Kinder singen oder basteln, besuchen ihre Eltern Therapiestunden. Dabei geht es um Fragen wie: „Wie kann ich mein Kind unterstützen und mich selbst erden?“ Ich möchte, dass wir das Projekt übernehmen und die Folgefinanzierung sicherstellen. Die Gespräche dazu laufen zwischen Caritas München und der Landeshauptstadt München. Für München plane ich ein Bildungssprachprojekt mit ukrainischen Kinderbüchern. Die Kinder sollen hier Deutsch lernen, ja. Aber sie sollen die ukrainische Sprache nicht vergessen. Sprache ist das, was uns ausmacht. Es geht darum, dass die Kinder ihre eigene Identität finden und die Verbindung zu ihrem Heimatland spüren. Denn diese Generation wird das Land wiederaufbauen. C Dein größter Wunsch? DD Dass wir den Krieg gewinnen und diese ganzen Projekte überflüssig werden. Und dass jeder dort wohnen kann, wo er wohnen möchte. Mit dem Ende des Krieges ist die Arbeit ja nicht zu Ende. Das wird uns alle und die nächsten Generationen noch beschäftigen. Die wichtigste Botschaft meiner Landsleute aus Kyiv ist: „Wir wissen, dass wir von euch unterstützt werden. Wir bedanken uns dafür. Bitte sagen Sie das weiter.“ „Sie sind jetzt sicher“ Darya Dmytruk ist die ukrainische Stimme am Hauptbahnhof und bei Radio Arabella INTERVIEW Manuela Dillmeier FOTO Dillmeier/Caritas München-Freising D „Die Erde weint, doch wir werden dieses Land wiederaufbauen.“ DARYA DMYTRUK ← Darya vor einer von Jugendlichen in München gestalteten Spray-Wand mit den Buchstaben MAD – verrückt. Wie passend. INTERVIEW 15 14 CARITAS-REPORT

ptimismus und Hoffnung sind gute Ratgeber. Doch wie sieht die Situation in den Unterkünften aus? Längst rufen Städte und Gemeinden den Bund um Hilfe. Denn für die Unterbringung von anerkannten Geflüchteten und Geflüchteten aus der Ukraine, die nach einer europäischen Regelung kein Asylverfahren durchlaufen müssen, sind die Kommunen zuständig. Viele fühlen sich von der schieren Zahl überfordert. Diese hat sich seit dem letzten Jahr verdoppelt bis verdreifacht, weiß der Caritas-Migrationsexperte Willi Dräxler: „Die Zahl der Mitarbeitenden ist demgegenüber nur um etwa zehn Prozent gewachsen“, moniert er. Die Jobcenter helfen zwar dabei, Arbeit zu finden, für die Vermittlung von Wohnraum sind sie jedoch nicht zuständig. Doch dieser fehlt überall. „Fakt ist, dass wir in Bayern und damit auch in der Erzdiözese München und Freising seit Februar 2022 zusätzlich Tausenden Ukrainer/ -innen helfen.“ Zudem kommen seit November verstärkt Geflüchtete aus Syrien, Afghanistan und weiteren Ländern, unter anderem aus der Türkei. Die Unterkünfte sind voll belegt, die mehr als 300 Asylsozialberater/-innen und Migrationsberater/-innen beim Diözesan-Caritasverband sind mehr als ausgelastet. Im Rahmen einer neuen Förderung des Bundes hat sich der Diözesan-Caritasverband für 6,5 Stellen in der Asylverfahrensberatung beworben. Gesucht sind Sozialpädagogen/-innen, die Asylsuchende rechtssicher beraten können, damit diese schneller einen Bescheid bekommen. Diese zu finden, sei angesichts des Fachkräftemangels nicht einfach. Problematisch sei die Ungleichbehandlung der Geflüchteten, denn während Ukrainer/-innen sofort arbeiten dürfen, müssen beispielsweise Syrer/-innen oder Afghanen/-innen zuerst ein langwieriges Aufnahmeverfahren durchlaufen. Dräxler fordert „gleiche Rechte für alle Geflüchteten“. Dass viele Ukrainer/-innen schnell Arbeit gefunden haben, zeigt, dass das System das hergibt. „Doch zuallererst müssen wir das Wohnraumproblem lösen.“ Wie genau, weiß keiner so recht. Kommunen wie die Stadt München bauen weitere Kapazitäten an Unterkünften für Geflüchtete auf. Wenn diese jedoch keine eigene Wohnung finden, obwohl sie anerkannt sind und eine Arbeit haben, wird das System verstopft. So hat die katholische Kirche die Pfarreien im Erzbistum dazu aufgerufen, kirchlichen Wohnraum oder Grundstücke bereitzustellen. Geflüchtete wohnen zum Teil in ehemaligen Pfarrhäusern oder werden von Klöstern beherbergt, wie im Kloster der Salesianer Don Boscos in Aschau Waldwinkl, wo aktuell noch 32 Ukrainer/-innen untergebracht sind. In einem Haus am Blütenanger, das der Caritas in Erbpacht überlassen wurde, wohnen 100 geflüchtete Ukrainer/-innen mit ihren Kindern. „Das Potenzial ist auch hier ausgeschöpft“, weiß der bis Ende Mai eingesetzte Wohnraumkoordinator Türker Usluer. Ungebrochen scheint das private Engagement. (md) O können in unseren Wohnangeboten alle Betreuungs- und Serviceformen anbieten.“ In der stationären Pflege seien circa 90 Plätze geplant. In der ambulanten Pflege soll es künftig möglich sein, 300 Klienten/-innen zu versorgen. „Daneben möchten wir in die Tagespflege einsteigen, und zwar mit 30 bis 40 Plätzen“, erklärt Huhn weiter. Hinzu kämen die Möglichkeiten der Palliativversorgung und Hospizbegleitung. 180 Schülerinnen und Schüler in der Pflege auszubilden, sei das Ziel im Bildungszentrum, das ebenfalls auf dem Areal angesiedelt werde. Das geplante Miteinander in der Weiterentwicklung der Pflege und beim Leben im Alter sei ein ganz entscheidender Faktor. Huhn unterstreicht: „Mit dem Bildungszentrum möchten wir interessierte Menschen für die Gesundheitsberufe gewinnen und ihnen eine exzellente Aus- und Weiterbildung bis hin zur akademischen Ausbildung ermöglichen, attraktive Arbeitsbedingungen schaffen und mit der Wissenschaft an neuen Ansätzen für die Versorgung älterer Menschen forschen.“ ielen ist der Ort Garmisch-­ Partenkirchen bekannt, doch wussten Sie, dass der Landkreis einen vergleichsweise hohen Bevölkerungsanteil an über 65-Jährigen hat? Wie können wir an diesem Caritas-Standort gewährleisten, dass auch künftig alle Senioren/-innen an ihrem Lebensabend gut versorgt sind? Können uns Roboter oder Assistenzsysteme bei der Versorgung helfen? Für diese Fragen gilt es, Antworten und Lösungen zu finden. Deshalb soll zentrumsnah und unweit des Garmisch-Partenkirchener Bahnhofs ein Campus entstehen, auf dem Pflege, Forschung, Lehre und Lernen Hand in Hand gehen. Auf diesem Gelände beteiligt sich der Caritasverband mit Angeboten im Bereich der Pflege und Bildung. „Wir sind der größte Arbeitgeber und Dienstleister hier in der Region“, so Kreisgeschäftsführer und Caritas-Campus-Projektleiter Alexander Huhn. „Wir möchten auf dem Campus unsere bisherigen Altenhilfe-Angebote an einem Standort bündeln und zusätzlich ein lückenloses Angebot für die Versorgung älterer Menschen machen. Wir Innovatives Projekt aus Forschung, Lehre und Versorgung in Garmisch-Partenkirchen Pflege im Aufbruch V Was ist der Stand in Sachen „LongLeif-Campus“? LongLeif GaPa gemeinnützige GmbH Lageplan – Längsschnitt (Stand: 24.11.22) *) Masterplanung LongLeif-Campus, Hinterschwepfinger Projekt GmbH (14.04.22) Legende: Caritas Pflegezentrum TUM – Forschung & Lehre Bildungszentrum Betreutes Wohnen solitär Caritas-Pflegezentrum TUM – Forschung & Lehre Bildungszentrum Betreutes Wohnen solitär Legende ↑ Der Lageplan des Campus-Projekts in Garmisch-Partenkirchen zeigt, wo exzellente Universitätsforschung, moderne Lehre, Wohnen mit Service sowie das innovative Pflegezentrum mit einem Seniorenheim vorgesehen sind. ↑ Mehr über das innovative Projekt in Garmisch-Partenkirchen über diesen QR-Code. ↓ In dem denkmalgeschützten Pfarrhaus am Blütenanger wohnen bis zu acht Geflüchtete, in der Hauszeile dahinter bis zu 110 Menschen. Diskriminierung beenden Caritas fordert gleiche Rechte für alle Geflüchteten „Fakt ist, dass wir in Bayern und damit auch in der Erzdiözese München und Freising seit Februar 2022 zusätzlich Tausenden von Ukrainer/-innen helfen.“ CARITAS-MIGRATIONSEXPERTE WILLI DRÄXLER 17 16 CARITAS-REPORT ZUKUNFT DER ALTENHILFE

Gefördert werden hierbei innovative Projekte zur Erforschung von robotischen Assistenzsystemen für Senioren/-innen und für das Pflegepersonal in Altenheimen, gemeinsam mit Forschungspartnern wie der Technischen Universität München (TUM) und dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Eine Beteiligung an solchen Forschungsprojekten ermöglicht neue Ansätze, ältere Menschen unter Berücksichtigung ihrer Bedarfe zu versorgen. Erste Studien laufen, Einsatzmöglichkeiten werden eruiert Beispielsweise im Projekt „SMiLE2getherGaPa“ unter Federführung des DLR. Das Ziel: Anwendungsbeispiele für den Assistenzroboter EDAN (Enhanced Delivery Ecosystem for Neurosurgery) zu finden. Gemeinsam mit Pflegefachpersonal aus der stationären Altenhilfe können praxisnahe und nützliche Szenarien für die Anwendung von EDAN entstehen. „Die partizipative Einbindung der professionell Pflegenden erlaubt, die Schnittmenge aus dem technisch Machbaren und dem aus Sicht der Pflege Sinnvollen zu ermitteln“, erklärt Isabella Salvamoser, wissenschaftliche Mitarbeiterin des Projekts innerhalb der Caritas. Das gemeinsame Entwickeln dieser Schnittmenge basiere auf Workshops, in denen unterschiedliche Anwendungsszenarien durchgeführt und analysiert werden, durch das sogenannte Wizard-of-Oz-Experiment, bei dem mithilfe eines Tele-Operators das robotische System ferngesteuert wird. So sei es in frühen Stadien des Projekts möglich, eine Mensch-RoboterInteraktion auszuprobieren. Weiteres Ergebnis des Forschungsprojekts sei ein Kriterienkatalog, mit dem der Einsatz robotischer Systeme beurteilt werden könne. Die pflegeethische und pflegewissenschaftliche Perspektive im Forschungsprojekt einzunehmen, ist für den Caritasverband essenziell. Eine Beteiligung vonseiten der Pflegepraxis an Forschungsprojekten im Bereich „Robotik und Pflege“ kann helfen, die Anwendungsfelder und die Weiterentwicklung möglichst praxisnah und letztendlich auch in der Pflege einsetzbar zu gestalten. Die jetzt verfügbaren Technologien stellen ein Potenzial dar, die größer werdende Versorgungslücke in der Pflege teilweise zu schließen, indem sie Hol- und Bringdienste übernehmen und dem Pflegepersonal so Freiräume für die menschliche Zuwendung schaffen. Trotzdem muss die potenzielle Übernahme funktionaler Tätigkeiten durch ein robotisches System hinterfragt werden. Das Anreichen eines Getränks etwa ist im Pflegealltag oft Anlass für ein kurzes Gespräch zwischen Bewohner/-innen und Fachkraft. Um dieses Kernmerkmal pflegerischen Handelns nicht zu verlieren, müssen derartige Szenarien auch unter ethischen Aspekten genau untersucht werden. Partizipative Weiterentwicklung robotischer Systeme finden im Caritas-Altenheim St. Vinzenz am Fuße der Zugspitze statt, verspricht Projektleiter Alexander Huhn. (ute/ahu/isa/var) „Wir sind auf die Reaktionen gespannt und halten Interessierte gerne über den Verlauf und die Ergebnisse unserer Projekte auf dem Laufenden.“ ALEXANDER HUHN ↑ Bayerns Pflegeminister Klaus Holetschek (sitzend) vor dem Roboter GARMI, eingerahmt von Prof. Dr. Sami Haddadin und Caritas-Vorständin Gabriele Stark-Angermeier. Dahinter (v. r.) Kreisgeschäftsführer Alexander Huhn, Christine Höppner, IBE-Geschäftsleiterin, sowie Elisabeth Koch, 1. Bürgermeisterin von Garmisch-Partenkirchen. 18 KIND – alle zusammen für das Wohl der Bewohner/-innen Die „Konsequente Bewohnerorientierung“ (KBO), bei der die Wünsche und Bedürfnisse der Senioren/-innen im Mittelpunkt stehen, ist schon lange Leitgedanke und Grundhaltung der 27 Caritas-Altenheime. Mit dem Projekt KIND (Konsequente Bewohnerorientierung – Interprofessionell – Neu – Denken) wird nun, aufbauend auf der KBO, intensiv am gewinnbringenden Zusammenspiel aller Berufsgruppen der stationären Altenhilfe gearbeitet – ganz im Sinne der Bewohner/ -innen und aller Mitarbeitenden. Denn für eine lebendige und funktionierende Betreuung braucht es nicht nur Pflegekräfte. Auch die Kollegen/-innen in der Hauswirtschaft, der Sozialen Begleitung oder der Hausverwaltung tragen entscheidend zum Wohlbefinden der Seniorinnen und Senioren bei. „Der demografische Wandel in der Gesellschaft führt dazu, dass die Menschen häufiger als früher bereits mit Vorerkrankungen in unsere Altenheime kommen. Das macht die Versorgung anspruchsvoller“, erklärt Projektleiterin Maria Schuster. „Gleichzeitig müssen wir trotz Personalmangels die gesetzlichen Vorgaben selbstverständlich umsetzen. Im Projekt KIND wollen wir gemeinsam vorhandene Strukturen und Prozesse im Arbeitsalltag auf dem Wohnbereich neu denken und bei Bedarf kreativ verändern.“ (mw) SkillsLAB – innovative Praxisanleitung Die Idee zum Pflege-SkillsLAB (das englische „skills“ steht für „Fähigkeiten“, „LAB“ steht für „Labor“) im Caritas-Fachbereich der Ambulanten Pflege in München entstand während der CoronaZeit. 2020 wurde im laufenden Betrieb die Pflegeausbildung generalisiert. Folge: Die neuen Azubis der generalistischen Ausbildung im ersten Lehrjahr mussten gleichzeitig mit den Azubis der klassischen Ausbildung im dritten Lehr- jahr in den sieben Diensten der ambulanten Pflege eingeplant werden. „Es gab parallel sehr viele Auszubildende“, erinnert sich Cornelia Alheid. Sie hat das Skills- LAB mit aufgebaut. „Ein weiterer Lernort war nötig, um die Praxisanleitung mit 40 Stunden sicherzustellen und die ambulanten Dienste zu entlasten. Dazu kam, dass viele Klienten/-innen Angst hatten, sich mit Corona zu infizieren, und deutlich weniger bereit waren, Auszubildende mit in die Versorgung zu lassen, was wir ernst nehmen mussten.“ Im 120 Quadratmeter großen Lernort im Hachinger Tal gibt es einen Simulationsraum mit Pflegebett und Puppe sowie einen Debriefing- Raum mit Bildschirm und Mikrofon. Eine Kamera zeichnet die Übungen auf, die im Anschluss mit den Auszubildenden analysiert werden. „Die Szenarien orientieren sich am Rahmenlehrplan und beinhalten generelle Kommunikation, Beratungsgespräche zu Prophylaxe, Transfer und Mobilisation sowie pflegerische Handlungen“, erklärt Anett Sander von der Geschäftsführung für Pflege- und Gesundheitsdienste der Caritas in München. „Maximal zwei Auszubildende sind gleichzeitig im SkillsLAB, werden in ein ausgewähltes Szenario eingewiesen und haben dann bis zu 60 Minuten für die inhaltliche Eigenrecherche.“ Im Debriefing-Raum erhalte jeder seine Rolle. „Wer den Klienten übernimmt, bekommt den Hinweis, ob dieser beispielsweise zugänglich oder herausfordernd sein soll. Dann wird zwei Runden im Simulationsraum geübt.“ Fehler ausdrücklich erlaubt. Das gemeinsame Auswerten der Aufzeichnung, das Wiederholen, der Vorher-nachher-Vergleich mit den Praxisanleitern/-innen gewährleiste eine gute Reflexion unter Anwendung pflegepädagogischer Instrumente. „Das gibt es in der ambulanten Pflege nur in unserem Leuchtturmprojekt“, bekräftigt Sander. „Die Caritas als Ausbildungsstätte mit Tradition zeigt sich hier als Innovationsträger, der den Mut hatte, neue Wege zu denken und zu beschreiten.“ So soll es 2023 weitergehen. „Geplant ist, dass 200 Auszubildende unterschiedlichster Kooperationspartner unser LAB durchlaufen. Wir wollen das Konzept als Modellprojekt genehmigen lassen und die Räume zusätzlich mehr für interne Schulungen aller Pflegekräfte nutzen.“ (var) voize – intelligente Unterstützung in der Dokumentation Die Dokumentation ist zwar nicht die Kernaufgabe professioneller Pflegetätigkeiten, gehört inzwischen aber dazu wie das Wechseln eines Verbands. Mit der Einführung der Spracherkennungs-App voize, angelehnt an das engliche „voice“ für „Stimme“, werden Pflichten nun spürbar erleichtert, denn damit kann die Dokumentation schon während der eigentlichen Pflege schnell und intuitiv eingesprochen werden. Das eigens für die Pflege entwickelte Assistenzsystem versteht Fachbegriffe wie Abkürzungen und kann die aufgenommenen Inhalte gleich den richtigen Bereichen der Dokumentation zuordnen. „Sprechen ist einfacher als Schreiben, deswegen möchten wir mit der Einführung von voize zuallererst unsere Pflegekräfte entlasten und ihnen wieder mehr Zeit für die eigentliche Pflege geben“, hebt Manuela Bardl, die den Einsatz des Tools im Verband koordiniert, hervor. „Gleichzeitig erwarten wir uns eine verbesserte Dokumentationsqualität, die die multiprofessionelle Zusammenarbeit gerade im stationären Bereich unterstützt.“ (mw) Innovative Techniken Auch neue Inhalte bei Pflege und Ausbildung ↑ Mit KIND arbeiten alle Professionen zum Wohl der Bewohner/-innen zusammen. ↓ Neuer Lernort: Im SkillsLAB trainieren Azubis die Pflegepraxis. ↑ EDAN Der Assistenzroboter hilft beeinträchtigten Menschen beim Einschenken von Gläsern oder beim Öffnen von Fenstern und Türen. 19 NEWS AUS DER PFLEGEPRAXIS CARITAS-REPORT

RkJQdWJsaXNoZXIy Mzg3MTE=